Simulacrum - Chapter 1 - I_bite_my_thumb_at_thee (2024)

Chapter Text

In stummen Einvernehmen hatten die Bewohner Neu Gan'Ols beschlossen, jegliches Getuschel und Gemunkel ins Innere ihrer Häuser zu verlagern. Die wenigen Leute, die schon von der täglichen Arbeit auf dem Weg nach Hause waren, blieben nicht stehen, um sich zu unterhalten. Anstelle von Neuigkeiten und Spekulationen tauschten sie lediglich ein kurzes, unpersönliches Nicken aus, wie man es sonst niemals in einem Land wie Lewit hätte finden können. Aber wer konnte es den Leuten verübeln, dass die Sorge ihre Zunge fesselte und ihre Füße antrieb? Nichts Gutes geschah, wenn man unerwünschte Namen unter freiem Himmel aussprach und heute gab es kaum ein angemesseneres Gesprächsthema als den Namen des benachbarten Reiches und die Drohungen, die es gegen Lewit aussprach. Man würde sich hüten, dieses Unheil noch schneller herbeizubeschwören, indem man im Freien darüber sprach.

Nicht, dass es in Neu Gan'Ol freien Himmel gegeben hätte, auch wenn die Deckenmalerei und die kunstvollen Fresken es einfach machten, zu vergessen, dass sich die gesamte Stadt unter Tage befand. Die Eisenberge, die die Stadt in ihre schützende Umarmung hüllte, waren einst als der sicherste Ort in ganz Lewit angesehen gewesen. Kein Leid mochte hier eindringen, weder die klirrende Kälte der gnadenlosen Nordwinter, noch die Alben, die, abgeschreckt durch das Eisen im Herzen der Berge, nicht wagten, den Bewohnern Lewits zu schaden und sich stattdessen mit den südlicheren Landen begnügten. Nun jedoch hatte das Unglück die Berge erreicht und die Sicherheit der Höhle war zu einer Falle geworden. Es war nichts als eine schöne Illusion, dass das eigene Haus Schutz bieten würde. Aber womöglich war die Einbildung der Sicherheit ein Schutz an sich.

Nur an einer Person war der Drang, in das Innere eines Hauses zu flüchten, vorübergegangen. Nichts lag Madrigal ferner, als sich in Neu Gan’Ols Herrensitz zu verstecken und darauf zu warten, dass die Botschafter Catheas endlich ankamen, während um sie herum der Haushalt schwirrte wie ein aufgeschreckter Bienenschwarm, um alles perfekt vorzubereiten. Sie hielt es nicht mehr aus, nutzlos herumzusitzen und den Bediensteten im Weg zu sein. Schlimmer noch war es, als ihr Vater sie angewies, sich in ihr Zimmer zurückzuziehen und dort zu bleiben, außer er ließ ausdrücklich nach ihr verlangen. Die Mahnung war unmissverständlich: Madrigals Teilnahme am Hofleben war in den kommenden Tagen nicht nur unerwünscht, sondern ihr explizit verboten. Weder bei der Begrüßung der Diplomaten, noch bei den Verhandlungen mit ihnen war es ihr gestattet, sich zu zeigen.

“Zu deinem eigenen Schutz,” hatte ihr Vater gesagt und Madrigal hatte genickt, ihr Gehorsam versprochen und so getan, als wüsste sie den eigentlichen Grund für das Verbot nicht. Das benachbarte Reich hatte schon vor Jahren deutlich zu verstehen gegeben, was es von Madrigal hielt. Was auch immer sie getan hatte, um diese Abneigung zu verdienen, es hatte die Möglichkeit für ein Bündnis zerschlagen. Was damals nur eine Schmach gegen sie gewesen war, zog nun seine Konsequenzen nach sich: Ohne das geplante Bündnis hatte Lewits Nachbarreich keine Hemmungen, aufrüsten und Lewit zu bedrohen. Niemand sprach es laut aus, aber Madrigal wusste, dass die Schuld auf ihren Schultern lastete und je mehr Zeit sie alleine in ihren Gemächern verbrachte, desto lauter wurden die Anschuldigungen, die sie sich in Gedanken selbst entgegenschleuderte. Nicht einmal die Geschichten, die sie sonst unfehlbar schafften, sie von ihren Sorgen abzulenken, waren nicht genug, um diese Bezichtigungen zu übertönen. Wie konnte sie nur stumm in ihren prachtvoll eingerichteten Gemächern sitzen, ein Buch über Heldentaten und mutige Kämpfer auf dem Schoß und abwarten, dass ihre Familie die Probleme löste, die sie geschaffen hatte? Dort draußen war ihr Volk gezwungen, trotz Ungewissheit und Angst seinen täglichen Arbeiten nachzugehen. Auch sie konnten nur abwarten, welches Urteil der hohe Rat in den nächsten Tagen über ihre Zukunft fällte. Auf eine seltsame Art war Madrigal den Bürgern ihrer Stadt in diesem Moment näher als ihrer eigenen Familie. Madrigals Blick hob sich von den Seiten des Buches und wanderte zu dem Fenster, an dm si saß. Durch das Buntglas sahen die Häuser und Straßen unter ihr unverändert heimelig aus. Fast könnte sie sich selbst glauben machen, das wäre noch immer der Fall. Von Dach zu Dach waren Girlanden aufgezogen, und die ganze Stadt war zur Begrüßung der Fremden mit Blumen geschmückt. Es war wunderschön. Es war unerträglich. Doch je länger sie die Straßen betrachtete, desto mehr sah sie, wie heuchlerisch das alles war. Niemand blieb stehen, um an den Blumen zu schnuppern oder sich der Farben der Banner zu erfreuen. Von ihrer Position aus konnte Madrigal nicht einen Straßenkünstler oder Musikanten entdecken. Neu Gan’Ol war unbelebt wie nie und selbst von Weitem und getrennt durch Mauern konnte sie sie erdrückende Spannung spüren, die über der Stadt lag, schwerer als die Bergmasse über ihnen. Madrigals Hand sank vom Fensterbrett in ihren Schoß, wo sie gegen den kleinen Beutel stieß, den sie immer an ihrem Gürtelkorsett trug. Ihr Atem stockte und ohne es zu wollen, begannen ihre Gedanken sich nach einem einzigen Ziel auszurichten: Das, was dieses stumme Warten aus Neu Gan’Ol machte war falsch, und als Tochter des Bleihhên war es Madrigals Pflicht ihrem Volk beizustehen. War es das nicht, was dieser Titel bedeutete? Eine Sonne so selbstlos, sie ihr Licht den anderen gab, bis sie selbst erbleichte. Das war die Rolle, auf die Madrigals Eltern ihr ihr Leben lang vorgelebt hatten und die Madrigal nun verweigert wurde. Es war nicht recht, dass Madrigals Licht nutzlos zu ihren eigenen Gunsten verglühte. Madrigals Vater wollte nicht, dass sie in den Hallen des Herrensitzes gesehen wurde? Gut, er sollte seinen Wunsch haben.

Abrupt stand Madrigal auf und bevor sie sich eines Besseren besinnen konnte, zog sie eines der Fläschchen aus ihrem Beutel und stürzte den Inhalt in einem Schluck ihre Kehle herunter.

Nur wenige Handgriffe später und es wurde lachhaft einfach, sich unbemerkt davonzuschleichen. Wobei schleichen nicht das richtige Wort war. Sie lief mit hoch erhobenem Haupt durch die Hallen und zum Tor hinaus, als hinderte sie kein Verbot. Auf eine weiße war das auch der Fall. Madrigal war gebunden durch das Versprechen, sich dem Willen ihres Vaters zu beugen. Aber sie war nicht mehr Madrigal, zumindest nicht äußerlich. Oh, gewiss, sie wurde gesehen, von den Wachen, den Bediensteten - sogar von ihrem eigenen Bruder Ranael, aber ihre Blicke perlten von ihr ab wie Regentropfen auf Glas.

Es dauerte nicht lange, bis sie ihr Ziel erreicht hatte. Sie suchte sich einen Platz direkt unter einem der Banner, auf denen das Wappentier Lewits, die Elster mit einem Gefieder wie ein Regenbogen, zu sehen war. Dort, an der Straßenecke zwischen dem Juwelier und dem Glasbläseratelier war sie nicht länger unauffällig, wie sie es im Herrensitz gewesen war, dafür wusste sie zu sorgen. Mit der Sorgsamkeit einer Mutter nahm sie den Instrumentenkoffer, den sie mitgenommen hatte, von ihrem Rücken und legte ihn neben sich ab. Dann nahm sie behutsam die Nyckelharpa heraus und schlang den Gurt um ihren Nacken. Sie spannte den Bogen, richtete sich auf und hörte nun vollständig auf, Madrigal zu sein. Mit dem ersten Ton, den sie den Saiten ihrer Nyckleharpa entlockte, schlüpfte sie nun ganz in die Rolle, die sie vor Jahren schon perfektioniert hatte: Agastra, die Bardin, die ab und an aus dem Nichts erschien und die Straßen Neu Gan’Ols mit ihren Geschichten und Liedern in ihren Bann riss, ließ eine heitere Melodie durch die Straßen hüpfen, als habe sie nichts von dem stummen Einverständnis der Bürger, die Straßen zu meiden, mitbekommen. Kurz hielt sie inne, verzog das Gesicht und stimmte die Saiten noch einmal nach. In den letzten Wochen hatte sie kaum Zeit gefunden, sich ihrer Passion zu widmen und das dissonante Jaulen ihres geliebten Instruments ließ sie spüren, dass sie ihm mehr Aufmerksamkeit hätte widmen sollen. Es war also nur natürlich, dass sie die verpasste Zeit nun nachholte. Ihre Finger tanzten über die Tasten am Hals der Nickelharpa und entlockten den Saiten ein Lied so munter, dass man hätte meinen können, die Bardin bereite sich auf einen Auftritt beim Frühjahrsfest vor. Zeitlich gesehen wäre dies nicht abwegig. Truvel, der Monat, in dem die Welt neu erwachte und die heimkehrenden Vögel Lieder von ihren Winterreisen anstimmen, stand kurz bevor. Nur noch wenige Wochen trennten die Bewohner Lewits von der Zeit des Überflusses und der hellen Tage. Es war unvorstellbar, diese Zeit im Inneren der Höhlen zu verbringen. Doch wenn sie Glück hatten - und Agalstra betete zu ihren Patronen, dass dem so war - würde die Verhandlungskunst ihrer Familie dem Land in den nächsten Tagen einen Grund zum Feiern bescheren. Bis dahin würde Agalstra ihr Bestes tun, um die Hoffnung darauf aufrecht zu erhalten, auf die einzige Art, die ihr im Moment möglich war.

Die erste Strophe war noch nicht vollendet, als schon ein Gesicht im Fenster des gegenüberliegenden Hauses erschien. Mit großen Augen blickte ein Junge auf sie hinab und nach einem kurzen Schulterblick streckte er sich, um das Fenster einen Spalt breit zu öffnen und die Musik in sein Haus zu lassen.

Wärme füllte Agalstras Brust und ein ehrliches Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, das der Junge schüchtern erwiderte. Er wagte es nicht, das Haus zu verlassen und auf der Straße zu ihrem Lied zu tanzen, wie es ihre Zuhörer sonst taten, aber es sah dennoch so aus, als höre er ihr aufmerksam zu und verlor mit jedem Ton ein wenig von seiner Anspannung. Für einen Tag wie diesen war nichts für Agalstra kostbarer. Sie mochte zwar hier unten alleine stehen,noch immer durch Mauern getrennt von ihrem alleinigen Zuhörer, doch wagte Einsamkeit es nicht, sich an jenen zu vergreifen, die Musik in die Welt brachten. Keine Buntglasverzierungen verfälschten dieses Bild. Das, was sie in seinem Gesicht sah, war aufrichtige Freude über ihr Spiel und so wie sie sich in dem Fenster spiegelte, sah es fast so aus, als stünde sie neben dem Jungen. Sie blinzelte und plötzlich waren es nicht mehr ihre eigenen blauen Augen, die aus ihrer Reflexion zurücksahen. Stattdessen bohrte sich ein gelber Blick in sie. Madrigal strauchelte überrascht zurück. Für den kleinen Jungen musste ihr Stolpern wohl aussehen wie ein Tänzchen, denn er klatschte ein paar Takte, bevor er sich eines Besseren besann und die Hände schnell wieder senkte. Während sich Agalstras Herz noch schmerzhaft gegen ihre Rippen hämmerte, verglühte das Gelb und wurde wieder zu dem kühlen Blau, das sie so sorgfältig gewählt hatte. Verdammt. Sie hatte gehofft, sie hätte mehr Zeit. Sie schüttelte den Kopf, um den Schock, der ihr in die Glieder gefahren war, abzuschütteln. Dabei löste sich das rote Tuch mit den schimmernden Perlen, das sie ein wenig zu locker um ihre Haare gebunden hatte. Agalstras Haare fielen ihr zu den Schultern, während das Tuch zu Boden flatterte. Noch immer neben sich, vergriff Agalstra sich und musste den Blick wieder auf die Tasten lenken, um die Melodie wiederzufinden. Dunkle Strähnen fielen ihr ins Gesicht und sie warf den Kopf zur Seite, um ihren Blick wieder frei zu bekommen. Sie hätte ihre Haare vielleicht doch lang genug machen sollen, um sie richtig zurückzubinden. Vielleicht beim nächsten Mal. Wenn es denn ein nächstes Mal geben würde.

Sie wagte einen weiteren Blick auf das Fenster, halb in der Erwartung wieder in das Augenpaar zu blicken, das nicht das ihre war. Stattdessen stellte sie mit freudigem Überraschen fest, dass das Klatschen des Jungen wohl weitere Zuhörer angelockt hatte. Ein älteres Paar hatte sich zu ihm gesellt, die Hände auf seine Schultern gelegt und die Köpfe zum Fenster geneigt, um Agalstra besser zu hören. Die Frau beugte sich zu ihrem Mann und sagte etwas, das ihm eine Furche zwischen die Brauen trieb. Agalstra hatte keine Ahnung, was die Frau gesagt hatte, aber der Mann schien ihr zuzustimmen, denn er nickte kurz und verließ das Fenster. Kurz darauf öffnete sich die Türe des Hauses und der Mann trat heraus.

“Komm rein, Kind,” sagte er, obwohl sie das Kindesalter schon lange hinter sich gelassen hatte. “Du solltest nicht alleine dort draußen sein.”

Als Agalstra nicht sofort reagierte, ergänzte er seine Worte durch ein Herbeiwinken, wobei er die Tür etwas weiter öffnete, sodass es unmöglich war, seine Aufforderung zu missdeuten.

Agalstra brach das Lied nicht ab, doch verlangsamte sie den Strich ihres Bogens, damit sie dem Mann mehr Aufmerksamkeit schenken konnte.

“Ich bin derselben Meinung,” sagte sie in einem schelmischen Tonfall, der nicht ganz zu ihrer Stimmung passte. “Es wäre schöner, wenn ich mehr Zuhörer hätte.”

Der Mann seufzte und ließ den Kopf hängen.

“Das wäre es. Und wenn die Patronen uns beistehen, wirst du auch wieder Publikum haben. Aber nur, wenn du mit deinem eigenen Wohl nicht so sorglos umgehst.”

Agalstra war drauf und dran zu erwidern, dass die Musik ihr wohl tat und dass es ohnehin nicht darum ging, dass sie wohlauf war. Doch die nächsten Worte des Alten nahmen ihr das Feuer von der Zunge.

“Wenn du schon nicht für dein eigenes Wohl auf mich hörst, dann tu es für das deiner Eltern.”

Etwas in der Art, wie er das sagte, traf Agalstra mitten in die Brust.

Pass auf dich auf, hörst du? Die Abschiedsworte ihrer Mutter halten durch ihren Kopf. Du und deine Geschwister, ihr müsst jetzt auf einander acht geben. Versprich es mir.

Damals hatte sie nur stumm genickt und ohne es zu merken, tat sie es nun ebenso. Sie begriff erst, dass sie ohne Absicht dem Alten ihre Zustimmung gegeben hatte, aber die Erleichterung auf seinem Gesicht war zu ehrlich, dass sie es nicht übers Herz brachte, weiter darauf zu bestehen, auf der Straße zu spielen, zudem er und sein Familie ohnehin ihr einziges Publikum waren. Die Entscheidung, ob sie seiner Aufforderung wirklich folgen wollte, wurde ihr abgenommen, denn nach einem kurzen Blick die Straße hinauf und hinab, hastete der Alte zu ihr, griff das rote Tuch und ihren Instrumentenkoffer und bedeutete ihr mit einem Kopfnicken, ihm zu folgen. Sie tat es und kaum hatte sie die Schwelle überschritten, fiel die Tür auch schon hinter ihr zu. Die Frau des Alten, die die Tür so schnell geschlossen hatte, wandte sich mit besorgter Miene zu Agalstra.

“Was hast du dir dabei gedacht, Kind?” scholt die Frau sie. Sie wartete keine Antwort ab, sondern manövrierte Agalstra mit einer Hand an ihrem Rücken in die Stube hinein, wobei sie der Tür furchtsame Blicke zuwarf, als würde das Unheil sie niederbrechen, wenn sie sie einen Augenblick lang aus dem Auge ließ. Agalstra hingegen sah sich neugierig in der Stube um. Sie war nicht besonders groß, aber die Wände waren geschmückt mit Wandteppichen und Makramen. Die Familie gehörte wohl der Weberzunft an. Am Auffälligsten war allerdings nicht die Webarbeit, sondern kleinen runden Spiegelscheiben, die in Form von Konstellationen an die Decke über dem Esstisch angebracht waren. So wie die Kerzen auf dem Tisch flackerten und ihr Licht an die Decke warfen, sah es aus als leuchteten die Sterne selbst über ihnen. Die Bewohner dieses Hauses schätzten also die Gastfreundschaft über alles. Kein Wunder, dass sie Agalstra so offen zu sich genommen hatten. Von dieser Gastfreundschaft war nicht viel zu hören im Ton der Alten, als sie fortfuhr: “Weißt du nicht, wie gefährlich es für jemanden wie dich im Moment ist?”

Als ob es irgendeinen Grund gegeben hätte, sie misszuverstehen, warf sie einen eindeutigen Blick auf Agalstras Haare. Genauer gesagt, auf die einzelne weiße Strähne, die sich durch den ansonsten schwarzen Schopf zog.

“Ich hatte ja meine Haare verdeckt…”

“Ja, und dann hast du wohl ganz vergessen, es erneut zu tun, nachdem das Tuch heruntergefallen ist.” Sie wackelte missbilligend mit dem Kopf. “Die Catheana könnten jeden Moment hier ankommen. Und was würdest du dann tun, wenn sie dich sehen?”

Die Worte der Alten zogen Madrigals Aufmerksamkeit wieder auf sich. Nun, da sie die Frau von Nahem sah, kam sie Agalstra vage bekannt vor. Sie konnte ihr keinen Namen zuordnen und sie glaubte nicht, je zuvor mit ihr gesprochen zu haben, aber sie war sich sicher, sie schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Möglicherweise während der biannualen Parade durch die Stadttore? Mit dem grimmigen Gesichtsausdruck, den sie nun an den Tag legte, war es schwer, sich vorzustellen, wie sie in der bunten Menge getanzt, gelacht und gesungen hatte. Zu anderen Zeiten mochten ihre Falten einem Lachen und einem langen, glücklichen Leben entsprungen sein; nun war es die Sorge, die ihren Pinsel über die Haut der Frau führte.

“Nun ja,” sagte Agalstra langsam. “Der Grund für ihren Besuch ist es doch, mit Lewit zu verhandeln. Ich glaube kaum, dass von Diplomaten eine große Gefahr ausgeht.”

Die Frau schnaubte. “Dann kennst du die hohen Leute schlecht,” sagte sie abfällig. Instinktiv verschärfte sich Agalstras Blick. Das war das erste Mal, dass sie jemanden so über ihre Familie sprechen hörte. Aber bevor sie die Bleihhên verteidigen konnte, fuhr die Frau fort: “Die Catheana sind nicht wie wir. Ihre Regenten bilden sich ein, sie stünden über ihrem Volk, nicht ihm zur Seite. Ich kann mir schon denken, wie sie auf fremde Städter herabschauen. Sie haben ja kaum Respekt vor ihrem eigenen Volk. Oder vor unseren Regenten.” Sie verschränkte die Arme und setze eine Miene auf, dass Agalstra sicher war, sie würde ausspucken, wenn sie nicht auf einem Teppich standen, an dem sie dem Muster nach zu urteilen eine Ewigkeit lang gearbeitet hatte. “Nach dem, wie sie die kleine Madrigal behandelt haben…es ist ein Wunder, dass ihr Vater sich überhaupt auf weitere Verhandlungen einlässt. Und überhaupt, was fällt ihnen ein -”

“Marya,” unterbrach der Mann sie sanft und legte ihr eine beruhigende Hand auf den Arm. “Ich glaube, unser Gast schätzt diese Art von Gespräch nicht besonders.”

Er hatte mehr als Recht. Während sie Maryas Tirade lauschte, war Agalstra blass geworden und als ihr wahrer Name gefallen war, hatte sie sich nicht davon abhalten können, zusammenzuzucken. Es war lächerlich, dass ihr die Schmach, die sie wegen Catheas Zurückweisung hatte ertragen müssen, noch immer so nah ging. Es war schon Jahre her und nicht eine Menschenseele in Lewit hatte Madrigal irgendeine Schuld zugesprochen - mit Ausnahme von Madrigal selbst.

Marya blinzelte und sah Agalstra an, als habe sie ganz vergessen, dass sie mit einer Fremden sprach.

“Oh,” sagte sie leise und die Schamesröte stieg ihr ins Gesicht. “Verzeih. Ich - Es ist nicht so, dass ich den Bleihhên anzweifle. Er hat mehr als bewiesen, dass er sein Bestes gibt. Es ist nur so, dass…”

Ein leises Tapsen, gefolgt von dem Knarren einer Türe ließ sie verstummen. Alle drei drehten sich zu dem kleinen Jungen, der sich wenig unauffällig angeschlichen hatte und der nun schuldbewusst hinter der Türe hervorlugte.

“Was ist mit dem Bleichen?”

“Nichts ist mit ihm,” sagte der alte Mann, ohne den Fehler zu verbessern. Im selben Moment sagte seine Frau: “Das ist etwas für Erwachsene.”

Die Augen des Jungen wurden groß und Agalstra konnte förmlich sehen, wie sich die beiden widersprüchlichen Aussagen zu einem Gedanken in ihm formten: Es war sehr wohl etwas los, und zwar ein Geheimnis, das so wichtig war, dass die Erwachsenen es nicht mit ihm teilen wollten.

Marya und ihr Mann wechselten einen Blick und schienen ein stummes Gespräch zu führen. In der eintretenden Stille ergriff Agalstra das Wort, bevor aus den gescheiten Gedanken des Kindes dumme Taten werden konnten.

“Was sie meinen ist, es ist nichts Interessantes los. Der Bleihhên erwartet nur ein paar Gäste, die von weit her kommen. Wahrscheinlich werden sie erstmal nichts anderes tun als schlafen, wenn sie ankommen und morgen wird nur ganz viel geredet, bis einem die Ohren abfallen.” Mit einem Zwinkern fügte sie hinzu: “Das kennst du sicherlich von deinen Lehrern, oder?”

Das entlockte dem Jungen ein Kichern und zog dann die Schultern hoch, als könne er so sein Lachen vor seinen Großeltern verstecken. Ein gewagtes Vorhaben, wenn man bedachte, dass er gleichzeitig Agalstra enthusiastisch mit einem Nicken antwortete.

“Na siehst du,” sagte sie mit einem verschwörerischen Zwinkern. “Da haben wir aber Glück gehabt, dass deine Großeltern so kurze Antworten geben, bevor es langweilig wird, oder nicht?”

Wieder nickte der Junge und diesmal wirkte es mehr erleichtert als schelmisch.

“Vielleicht,” mischte der Alte sich wieder in das Gespräch ein, “gehen wir zwei lieber wieder zurück in dein Zimmer. Ich habe auch keine Lust auf langweilige Erwachsenengespräche. Vielleicht kannst du mir zeigen, was du heute gemalt hast?”

Der Alte trat näher und hielt dem Jungen die Hand hin. Der Kleine war drauf und dran, die Hand zu ergreifen, da zögerte er nochmal und wandte sich wieder Agalstra zu.

“Darf ich die mal anfassen?” fragte er und zeigte auf die Nyckleharpa.

“Harinn,” mahnte Marya den Jungen. “So etwas fragt man nicht.Außerdem ist das ein teures Instrument. Mit sowas muss man vorsichtig sein.”

“Ist schon gut,” sagte Agalstra. Marya hatte recht. Es war Agalstra ein wenig unangenehm, ihr Instrument anderen anzuvertrauen und sei es nur für einen Moment. Instrumente der Kunst, sei es der Pinsel eines Malers, die Meisel eines Steinmetzes oder die Waffe eines Fechters, waren mehr als in bloßer Nutzgegenstand. Des Künstlers Leben und Seele hing daran. Doch Harinns Augen leuchteten wie kleine Sonnen und so fiel es Madrigal nicht schwer, das Unwohlsein beiseite zu schieben, sich vor ihn zu knieen und ihm den Bogen entgegenzustrecken. Mit großen Augen griff er danach und nach einem aufmunternden Nicken von Agalstra zog er ihn über die Saiten der Nyckelharpa, während sie die Tasten in einer einfachen Melodie drückte.

Der Kleine lachte begeistert, obwohl sein Strich auf den Saiten kratzte, dass einem die Haare zu Berge standen.

“Wenn ich groß bin, werd ich auch mal Barde!”, verkündete er mit der Selbstsicherheit, die nur ein Kind haben konnte. Agalstra grinste und wuschelte ihm durch die braunen Locken. “Du musst aber noch ein bisschen wachsen dafür. So eine Schlüsselfidel ist ganz schön schwer.”

“Aber ich bin schon stark.”

“Ach ja?” Agalstra zog amüsiert die Brauen hoch. “Vielleicht willst du mir dann dabei helfen, die Fidel wieder in den Koffer zu bringen? Es wird langsam anstrengend, sie zu tragen.”

Harinn nickte eifrig und nahm das Instrument mit übertriebener Ehrfurcht entgegen, wobei Agalstra einen Teil des Gewichts noch immer mit dem Gurt unterstützte, den sie nun in der Hand hielt, nur um sicher zu gehen, dass der Junge das Instrument nicht doch fallen ließ. Sie folgte dem Kind, in dessen Armen die Nyckelharpa absurd groß aussah, zu ihrem Koffer.

“Siehst du?” fragte er, nachdem er das Instrument mit Agalstras Hilfe sicher verstaut hatte, “Ich bin stark genug.”

“Das bist du,” stimmte Agastra ihm zu. “Du wirst sicher einmal ein großartiger Barde sein. Vielleicht kann dein Großvater dir gleich schonmal ein paar Lieder beibringen?”

“Ja bitte!”

Besagter Großvater neigte dankbar den Kopf für die Hilfe, den Kleinen dazu zu bringen, mitzukommen und führte Hirann nun endlich aus dem Zimmer heraus.

Schweigen trat ein, während die beiden zurückgebliebenen Frauen zusahen, wie die Tür aus der Stube hinaus langsam ins Schloss fiel.

Es ging nicht an Agalstra vorbei, dass Marya das Gespräch von eben nicht wieder aufgriff. Vermutlich war ihr noch immer unwohl bei dem Gedanken, gewisse Worte laut auszusprechen. Es war nicht ungewöhnlich, Kritik an den Bleihhên zu äußern, aber dies waren auch keine gewöhnlichen Zeiten und Vertrauen war nichts, was man einfach so hergeben konnte. Aber es war auch gar nicht nötig, dass Marya ihren Gedanken laut teilte. Agalstra - Madrigal - hatte oft genug mitangehört, wie ihr Vater selbst die selben Zweifel aussprach und so vervollständigte sie den Gedanken, der trotz der Unterbrechung noch immer in ihrer beider Köpfen saß: “Es ist nur so, dass das Beste des Bleihhên nicht immer gut genug ist.”

Und nicht nur seins, fügte sie in ihrem Kopf hinzu. Marya musste ihr die Gedanken angesehen haben, denn sie sagte tröstend: “Nimm dir was heute ist, nicht so zu Herzen. Du kannst nichts dafür, dass die Stimmung…so ist wie sie ist.”

Wenn du wüsstest.

Agalstra gab ihr ein dünnes Lächeln zur Antwort. “Ich hatte gehofft, die Stimmung etwas heben zu können.”

Marya seufzte und ließ sich auf einen der Stühle, die um den Tisch standen, fallen. “Ein nobles Vorhaben. Aber ich fürchte heute kann nicht einmal ein Singvogel wie du den Winter aus den Herzen vertreiben.”

Sie zog den Stuhl zu ihrer Rechten ein wenig vom Tisch weg und klopfte einladend auf die Sitzfläche. Agalstra raffte ihre Röcke und nahm ebenfalls Platz.

“Es fühlt sich wirklich an, als wäre es Winter.” Sie zupfte an den weiten Ärmeln ihres Kleides, die ihr gerade einmal bis zu den Ellenbogen fielen. “Dein Enkel sollte nicht in Neu Gan’Ol eingesperrt sein. Er sollte freien Himmel über sich haben. Mit anderen Kindern draußen spielen ohne Angst zu haben. Den Truvelbeginn feiern.”

“Mein Enkel sollte vor allem nicht jede Nacht vor dem Einschlafen danach fragen müssen, wann seine Mutter zurückkommt.” Eine unendliche Müdigkeit legte sich in Maryas Stimme und zum ersten Mal wurde Agalstra wirklich bewusst, wie viele Jahre sie auf ihren Schultern trug. “Und ich… ich sollte nicht hilflos um eine Antwort ringen.”

Agalstras Atem stockte. “Du…deine Tochter ist…” Sie brach ab, unsicher, ob sie wirklich auszusprechen wagte, was in ihrem Kopf vor sich ging. Aber wenn sie richtig lag, konnte sie das Unheil nicht mehr beschwören, indem sie es beim Namen nannte; es war bereits geschehen.

Marya neigte den Kopf und mit zitternder Hand holte sie ein Medaillon unter ihrer Chemise hervor. Sie öffnete es und hielt es so, dass Agalstra die Miniatur darin sehen konnte. Der Funken Hoffnung, dass sie sich geirrt hatte, verpuffte, als sie sich das Portrait besah. Die junge Frau darauf, etwas älter als Agalstra und mit einem verschmitzten Lächeln, hatte die Haare zu einem Zopf geflochten. Und inmitten der braunen Haarpracht, stach eine weiße Strähne dem Betrachter direkt ins Auge. Dieselbe Strähne musste sich wohl auch in Maryas Silberhaar verstecken.

Unwillkürlich fasste Agalstra sich selbst an den Kopf. Das Verhalten des alten Paares ergab auf einmal mehr Sinn. Es war nicht die vage Furcht vor dem Ungewissen, vor dem sie Agalstra schützen wollten. Sie hatten die Bedrohung, die über ihr schwebte, am eigenen Leib erfahren. Mit einem Mal wurde Agalstra klar, weshalb Marya ihr so bekannt vorkam. Sie musste eine von den unzähligen Bittstellern gewesen sein, die dem Bleihhên ihr Leid beklagten, bevor dieser beschlossen hatte, sein Volk ins Innere der Berge zu evakuieren. Mütter, Töchter, Schwestern; alle mit einer weißen Strähne im Haar und alle unauffindbar.

Ein Kloß bildete sich in Agalstras Hals und sie musste schlucken, um überhaupt ihre Stimme wiederzufinden. Als sie sprach, klang sie rauer als zuvor: “Verzeih mir. Hätte ich gewusst, dass deine Tochter eine von denen ist, die verschwunden sind, hätte ich nicht… Es war nicht meine Intention mit meinem Leichtsinn schlechte Erinnerungen wachzurufen.”

“Mach dir darüber keine Sorge.” Marya fuhr mit einer Fingerkuppe liebevoll über das Bild. “Die Erinnerung hat nie geschlafen.” Sie klappte das Medaillon wieder zu. “Ich kann meine Tochter nicht zurückbringen. Wenn die Patronen auf unserer Seite sind, wird der Bleihhên einen Weg finden. Aber bis dahin kann und werde ich dafür sorgen, dass ihr Schicksal nicht noch anderen widerfährt.” Sie tätschelte Agalstras Wange, wie es niemand mehr gemacht hatte, seit ihre Mutter gegangen war. “Wir Elstern müssen zusammenhalten.”

Etwas schwoll an in Agalstras Brust und sie konnte nicht anders, als nach Maryas Hand zu greifen. “Du wirst deine Tochter zurückbekommen, das verspreche ich dir.”

Ein wohliges Kribbeln breitete sich in ihr aus, als die alte Frau ihre Hand drückte.

“Das liegt in der Macht des Bleihhên und Patronen.” Sie ließ den Blick zu den Spiegelsternen über ihnen wandern, während sie ihre freie Hand erst an ihr Herz, dann ihre Stirn und schließlich gen Himmel streckte. Agalstra folgte ihrem Beispiel und machte ebenfalls das Zeichen der Gemeinschaft. Ihr Blick folgte ihrer Hand zu der Imitation der Sterne hinauf. Anstatt der Reflektion der warmen Kerzen, zeigten sie Spiegel unzählige kleine gelbe Augen, die sie unverwandt anstarren. Erschrocken zog Agalstra die Luft ein. Die Augen blinzelten und im selben Moment ertönte ein Pochen an der Tür.

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Author: Van Hayes

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Name: Van Hayes

Birthday: 1994-06-07

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Job: National Farming Director

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